Die Geschichte der Kirche
Seit dem Jahr 1675 gibt es in Leer eine lutherische Gemeinde mit einer eigenen Kirche. Die Lutherkirche steht im Herzen der Altstadt von Leer. Zusammen mit der römisch-katholischen Kirche St. Michael (1776) und der evangelisch-reformierten Großen Kirche, die in unmittelbarer Nachbarschaft liegen, bildet sie ein Ensemble, das eine über dreihundertjährige, bewegte Geschichte hat.
Heute zeugen nicht zuletzt die geschwisterliche Zusammenarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Leer und die jährliche gemeinsame Veranstaltung der Kulturnacht der Kirchen von der Überwindung der konfessionellen Gegensätze vergangener Jahrhunderte.
Wandgemälde von 1738 im Treppenaufgang der Lutherkirche
Um zu verstehen, was der erste Neubau einer lutherischen Kirche in der weiteren Umgebung im Jahr 1675 bedeutet hat, ist ein Blick in die Reformationszeit in Ostfriesland aufschlussreich:
In Ostfriesland wurde das Gedankengut der Reformatoren im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts schnell aufgenommen. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten lösten sich die etwa 30 Klöster auf. Die Pfarreien wurden fast überall mit Predigern der ’neuen Lehre‘ besetzt, wobei es ab den 1670er Jahren zu einem erbittert geführten Machtkampf zwischen den Anhängern der lutherischen und denen der schweizerischen (Zwingli) bzw. französischen (Calvin) Reformatoren kam. Vor allem aufgrund der politischen Konstellationen in der Grafschaft Ostfriesland blieb dieser Machtkampf über zwei Jahrhunderte in einem Patt bestehen, bei dem zwei Regelungen nebeneinander oder gegeneinander standen: Das Recht der Landesfürsten, die lutherische bzw. römisch-katholische Konfession der Untertanen zu bestimmen (cuius regio, eius religio), ausgehandelt im Augsburger Religionsfrieden (1555) und bestätigt im Westfälischen Frieden (1648), und das Emder Konkordat von 1599, ein Befriedungsversuch zwischen den beiden reformatorischen Konfessionen, nach dem in jeder Stadt bzw. jedem Dorf in Ostfriesland die Konfession der Mehrheit bestimmend für alle Einwohner wird.
In Leer waren die Einwohner mehrheitlich reformiert. Fürstin Christine Charlotte schuf somit durchaus eine rechtlich prekäre Situation, als sie im Jahr 1673 den Leeraner Lutheranern genehmigte, eine eigene Kirche zu bauen. Sie schenkte der Gemeinde die Steine des aufgelösten Klosters Thedinga, etwa 5 km von hier entfernt, das zum Besitz des fürstlichen Hauses gehörte. Im Übrigen vermerkte sie in ihrer Genehmigungsurkunde, dass die Leeraner Lutheraner weiterhin der reformierten Gemeinde ihre Abgaben zu zahlen hätten.
In dieser geschichtlichen Situation wurde 1675 der Grundstein für die Lutherkirche gelegt.
Eine unserer drei Glocken
Der ursprünglichen Bau von 1675 war ein geosteter Saalbau, der bald zu klein wurde. Die nächste Generation bereits erweiterte den Bau 30 Jahre später nach Westen, denn sie wollte einen Turm haben. Der Bau des Turmes scheiterte am Widerstand der reformierten Leeraner, die sich auf die bereits erwähnte Emder Konkordie beriefen. Die Lutheraner mussten weiterhin gegen Miete mit dem Geläut der Reformierten Kirche zu ihren Gottesdiensten und Kasualien rufen.
Auch dieser Bau konnte nach ca 30 Jahren die wachsende Gemeinde nicht mehr fassen. 1738 wurde an der Nordseite angebaut, um weitere Sitzplätze zu schaffen. Dabei entstand der nord-östliche Eingang mit dem sog. Schwanentor. Der vierten Generation gelang 1766 schließlich der Bau des Turmes auf das vorbereitete Fundament. Ihr kam dabei zustatten, dass nach dem Aussterben des Fürstengeschlechtes Ostfriesland Preußen angegliedert und unter Friedrich dem Großen die Gleichberechtigung der Konfessionen strikt durchgesetzt wurde. Zur Hundertjahrfeier im Jahre 1775 wurden zwei neue Glocken angeschafft.
Ursprüngliche Mauer mit Steinen von Kloster Thedinga
Die fünfte Generation erweiterte 1793 den Chorraum um die Orgelempore und die darunterliegende Sakristei und gab eine neue Orgel in Auftrag, deren spätbarockes Gehäuse bis heute erhalten ist. Die nächsten beiden Generationen beließen es bei dem bisher erreichten Umfang des Raumes und erst unter der achten Generation erlangte die Lutherkirche mit dem Anbau an der Südseite 1882 die ihre heutige Größe und die symmetrische Kreuzform, die sie heute hat. Bei aller Schlüssigkeit und Symbolik bringt dieser Grundriss mit der Säulenkonstruktion in der Mitte einige Nachteile mit sich, so dass sich die neunte Generation 1910 mit einer Neugestaltung des Innenraums daran machte, das so gewachsene Gebilde mit einer an drei Seiten durchgezogenen Empore, dem Tonnengewölbe über die gesamte Längsachse, der Holzvertäfelung und einer einheitlichen Bemalung als harmonisches Ganzes erscheinen zu lassen.
Die nachfolgenden Generationen bis heute haben diesen Zustand erhalten. Eine weitere gründliche Sanierung fand in den Jahren 1987/88 statt.
Die 800 Jahre alten Steine im großen Klosterformat sind noch an drei Stellen zu sehen. Alle anders gemauerten Wände sind Anbauten, die von einem stetigen Anwachsen der Gemeinde im Lauf der nächsten Generationen zeugen.
Schwan mit Krone
Der „einfache“ Schwan bekrönt in Ostfriesland fast 70 Kirchtürme. Seine symbolische Bedeutung geht zurück auf eine Legende um den tschechischen Gelehrten Jan Hus (1370-1415) der in seiner Zeit schon den Klerus kritisierte und gegen Verschwendung, Habsucht und übermächtigen Besitz der Kirche Roms predigte. Dafür wurde er auf dem Konzil von Konstanz 1415 verurteilt und als Ketzer verbrannt. Er soll gesagt haben: ‚Heute verbrennt ihr eine graue Gans‘, (tschechisch ‚Hus‘, = Gans)’aber aus der Asche wird ein goldner Schwan auferstehen‘ (Hinweis auf Martin Luther)
Den Schwanenhals der Lutherkirche ziert eine goldene weltliche Krone als Hinweis auf den Preußenkönig Friedrich II „der Große“, der 1766 den Bau des Turmes ermöglicht hatte.
Das Tauffenster von 1910 ist ein Stiftung
Die Bemalung mit der üppigen Neorenaissance-Ornamentik ist außergewöhnlich reichhaltig für eine lutherische Kirche in Ostfriesland. Oberhalb der Säulen und über dem Ausgang sind als die gewissermaßen weltlichen Säulen des Kirchenbaus die Portraits der ostfriesischen Fürsten aus dem Hause Cirksena abgebildet (Christine Charlotte, ihr Sohn Christian Eberhard, dessen Sohn Georg Albrecht und der letzte Nachfahre des Hauses Cirksena, Carl Edzard), die den Kirchenbau samt seinen Erweiterungen unterstützt haben sowie zwei Personen, die indirekt die Existenz der Lutherkirchengemeinde ermöglicht haben: Graf Edzard I. der, wie es heißt, mit besonnener Hand die Reformation in Ostfriesland eingeführt hat sowie Friedrich der Große, der als König von Preußen die Gleichberechtigung der Konfessionen in seinem Staatsgebiet endgültig durchgesetzt hat.
Auf dem Scheitel des Deckengewölbes in schematisierter Darstellungsweise Christus und die vier Evangelisten, in den Kartuschen entlang dem Gewölbeansatz die Namen der Apostel.
Zur heutigen liturgische Ausstattung der Kirche haben mehrere Generationen bis zur jetzigen beigetragen. Wir sehen sie uns von der Nähe an (vor dem Chorraum versammeln). Ältestes Stück ist die Kanzel, ein Geschenk der lutherischen Gemeinde von Esens an die Glaubensbrüder in Leer zur Zeit der Erbauung der Lutherkirche. Die Kanzel ist um 1500 gebaut und stammt möglicherweise aus dem ehemaligen Kloster Ihlow. Der Altar wurde von der ersten Generation erbaut. Der Taufstein ist seit der Restaurierung 1910 in der Kirche, er ist aus Ton und stammt aus dem 19. Jahrhundert.
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